Ausgewählte Arbeiten von Frei Otto und seinen Teams

Selected Works of Frei Otto and his Teams 

Die Architektur des kommenden Jahrtausends ist ebenso wenig vorhersagbar wie die des nächsten Jahrhunderts. Prognosen können mit abnehmender Gültigkeit 10 bis 25 Jahre erfassen. Darüber hinaus können nur Visionen weiterführen. Die Jahrhundertwende bringt keine Wende im Bereich der Baukunst. Sie ist eine Zeitmarke, mehr nicht.

Kunst, auch Baukunst, kennt keine Entwicklung zu irgendeinem Ziel oder zu steigender Qualität. Baukunst hat aber eine Geschichte, kennt Höhen und Tiefen. Techniken und Hilfsmittel dagegen entwickeln sich stürmisch. Entwicklungslinien lassen sich in Grenzen extrapolieren, Vorhersagen sind möglich.

Die Bautechnik ist auf hohem Niveau und wird es halten. Die Arbeitsmaterialien des Architekten sind Erde, Stein, Lehm, Ziegel, Beton, Holz, Glas, Stahl, Textilien oder Luft. Sie sind nur durch die Grenzhöhen und Grenzspannweiten von Hüllen, Dächern, Brücken naturgesetzlich begrenzt. Die heute möglichen Höhen für Türme und Hochhäuser sowie die möglichen Spannweiten für Brücken sind dermaßen groß, dass sie nur selten ausgenutzt werden können. Man könnte Brücken und Dächer kilometerweit spannen und Türme ebenso hoch bauen.

Innerhalb der naturgesetzlichen Grenzen aber bleibt eine unendlich große Variabilität. Man wird auch in Zukunft immer größere Brücken und Türme unterschiedlichster Formen bauen, doch nur dann, wenn sie unumgänglich sind. Nicht so sehr die Rekordsucht des 19. Jahrhunderts wird das Bauen bestimmen, sondern auch wie zu allen Zeiten die Sucht der Reichen und Mächtigen nach Ruhm und Prunk. Besonders bei Geschäftshäusern, Banken und Sportarenen wird protzig angelegtes Geld baukünstlerische Qualität durch Übermaß erdrücken. Die Architektur der nächsten zwei Jahrzehnte wird durch zahlreiche reale Aufgaben geprägt, die heute bereits akut sind. Einige von vielen Beispielen seien hier genannt:

-  Weltweite Katastrophen wie Erdbeben, Überschwemmungen, Stürme, Großbrände, Atom- und Chemieunfälle und andere sind weiterhin zu erwarten. Sie erfordern nicht nur katastrophenfestes Bauen, sondern auch die Einsatzbereitschaft von Sofort-Wohnstätten in ausreichend großer Zahl, die in wenigen Stunden am Ort sei können und den Geretteten eine angemessene Lebensqualität bieten.

-  Die mitteleuropäischen Auen wurden mit Gebäuden und befestigten Flächen sterilisiert. Dies rückgängig zu machen und die Auen wieder zu befeuchten, ist notwendig.

-  Es wurden  mehr Straßen und Brücken als je zuvor gebaut. Doch die gestalterische Qualität von Autobahnen, Straßen und Fahrwegen ist auf dem niedrigsten Niveau aller Zeiten. Sie müssen ästhetisch und ökologisch besser werden.

-  Unverändert bleibt der Wohnungsbau eine der ganz großen Aufgaben, deren Erfüllung in der Zukunft nicht mehr  an der Anzahl, sondern nur an der erreichten Lebensqualität gemessen werden wird. Insbesondere das Entwerfen, Finanzieren und Bauen von Häusern auf gemeinnützigem Grund mit erneuertem Erbbaurecht für Familien mit Kindern erfordert das Engagement der jungen Architektengeneration.

Die Architektur ist im Grunde frei wie ihre Schwestern, die Malerei und die Bildhauerei. Unendlich viele Formen könnten gemalt, geknetet, gegossen und gebaut werden. Jeder Mensch dieser Erde könnte ein eigenes Haus haben, das keinem anderen gleicht, heute, in hundert Jahren, in tausend Jahren. Diese Weite der Möglichkeiten sprengt jedes Vorstellungsvermögen und erschwert den Blick voraus, weil unvorhersehbar viel geschehen kann durch Menschen, die mit subjektiven Visionen ihre eigene Welt gestalten.

Die heutige Gesellschaft gibt sich vielerorts bereits zufrieden, wenn sie wenigstens einigermaßen zutreffend erfährt, was in den nächsten Jahren geschehen könnte. Sie möchte unter anderem auch wissen, wie die kommende Architektur aussieht und ob sie schön ist und gut wirkt oder ob sie die Umwelt noch unwirtlicher machen wird. Sie möchte wissen, ob es überhaupt noch Baukunst geben wird, ob man noch Architekten braucht oder ob diese vielleicht von Computern ersetzt werden, die vermeintlich schneller und fehlerfrei planen können.

Architekten wird es immer geben, solange Menschen die Erde besiedeln. Heute wird viel gebaut, doch nur selten entsteht Baukunst. Unsere Gesellschaft weiß dies. Sie versucht krampfhaft, Bauwerke zu erhalten, von denen sie meint, dass sie wertvoll seien. Wir wandeln zunehmend zwischen Antiquitäten. Über eine Million Architekten arbeitet weltweit und baut unzählige Häuser. Doch nur einige hundert im Jahr erlangen internationale Aufmerksamkeit und kaum mehr als 30 schreiben Baugeschichte. Viele Menschen sind an der Zukunft der Baukunst nicht sonderlich interessiert. Sie wohnen und arbeiten in Gehäusen, zu denen die innere Beziehung fehlt. Sie leben schlecht und recht zur Miete in Häusern, die andere gebaut haben, um damit Geld zu verdienen. Wenn jemand endlich einmal sein lang ersehntes eigenes „Traumhaus“ verwirklichen möchte, dann bremsen ihn viele Vorschriften zur Lage, Orientierung, Dachneigung und Farbe. Es verbleibt vielleicht noch die Gestaltung der Eingangstür oder der Tapeten.

Bislang schrumpft das Interesse der Gesellschaft an Baukunst auf ein touristisches zusammen. Man besucht alte Städte und Baudenkmäler und bewundert die alten Baumeister. Im Bereich der Denkmalpflege wird zur Zeit überproportional viel getan. Es wird ein Wandel einsetzen, man wird Baudenkmäler kritischer betrachten und bald nur noch solche erhalten, die die Gesellschaft wirklich liebt. Die anderen Gebäude wird man würdig „sterben“ lassen oder aber den Zeitläufen anpassen, denn nur das anpassungsfähige Haus, das jeden Tag „up to date“ ist, hat die Voraussetzung für ein langes Bestehen. Die wirklich Epoche machenden Werke der Baukunst waren zu allen Zeiten neu, waren vorbildlos, waren geistige Produkte, die zu geformter Materie wurden. Sie waren oft voller Fehler, Aber sie hatten die besondere Ausstrahlung des „Urerlebens“. Sie zeigten sich denen, die sich ihnen öffneten. Ich sehe keinen Grund, warum das nicht auch in Zukunft wieder so sein kann.

Jede Kunst lebt von Vorbildern. Die Malerei und die Bildhauerei fanden sie früher vor allem in der Natur, die spannungsvoll unvollendete Vollkommenheit und vor allem unerklärbare Schönheit zeigte. Die Baukunst aber hat Natur nur sehr selten zum Vorbild genommen. Rückwärts blickend ist sie sich selbst Vorbild. Historische Bauten werden oft imitiert oder nachempfunden. Die Aufgabe des Bauens ist bis heute der Schutz des Menschen vor den Gewalten der Natur, die man inzwischen zunehmend beherrscht. Endlich erkannt man auch den Umfang der Vernichtung von Natur durch Bauten. Langsam entwickelt sich ein neues Verständnis für eine Symbiose des Menschen und seiner Bauten mit der Natur.

Am ehesten können Architekten die Zukunft des Bauwesens der nächsten drei bis fünfzehn Jahr vorhersagen. Sie planen heute für morgen. Was heute konzipiert wird, ist in wenigen Jahren Gegenwart. Die effektivsten Kurzzeit-Zukunftsmacher sind die großen Stars, die ständigen Wettbewerbsgewinner, die mit größtem Geschick bekannte Elemente der Bautechnik und Baukunst blitzschnell so gut neu arrangieren, dass sie weltweit nachgeahmt werden. Sie sind in der Regel Interpreten und Arrangeure von Ideen, die andere vor ihnen hatten, die sie nicht selbst entwickelt oder erfunden haben. Dazu fehlt ihnen die Zeit, wenn sie von einem Projekt zum nächsten eilen. Sie gestalten zwar die Stadt von morgen und dokumentieren doch nur das Gestern, allenfalls das Heute. Die eigentlichen Avantgardisten der Architektur sind die Visionäre, die Forscher und Erfinder, denen es gelingt, neue Ideen in die Nähe der Realisierbarkeit zu bringen. Ideen, Erfindungen, Forschungen sind der wirkliche Motor des Bauens, sind die Grundlagen für die Baukunst. Ideen brauchen viel Zeit, bis sie endlich verstanden werden.

Um die Gegenwart zu erfassen, ist die Kunst- und Architekturkritik von großer Bedeutung. Ideen müssen erkannt, echte Werke der Baukunst als solche entdeckt werden. Wir haben zu wenig und noch weniger gute Architekturkritiker. Kritik verlangt Kennen und Können und ist selbst eine Kunst. Die Geschichte kann zwar Hinweise für mögliche Weiterentwicklungen der Bauwirtschaft und Bautechnik geben, doch keine zuverlässigen Hinweise im Bereich der Künste, die sich zwar verändern, aber nicht entwickeln, zumindest nicht qualitativ. Die vor fünfzig Jahren entstandene Geschichte der modernen Architektur versuchte bis zur Gegenwart vorzudringen. Sie versuchte einerseits die Gegenwart zur Geschichte zu machen und andererseits durch Fortführung von Trends die Zukunft vorzuzeichnen. Sie versuchte die Extrapolation von Geschichte im Bereich der Kunst, ein im Ansatz hoffnungsarmes Unterfangen. Bisher ist es keinem jener modernen Baugeschichtler, die faszinierende Zukunftsbilder an Hand ihrer eigenen Vorbilder malten, gelungen, mit eigenen Bauten selbst wirkliche Baukunst zu schaffen. Die direkte Extrapolation der Geschichte in der Zukunft scheint verbaut.

Unzählige Vorschläge zur Anhebung des Niveaus der kommenden Architektur werden zur Zeit diskutiert. Im Mittelpunkt steht das Wettbewerbswesen und die zunehmende Erkenntnis, dass es grundsätzlich nicht möglich sein kann, die Qualität von Baukunst zu messen. Architekten entscheiden als Geheimrichter über die Arbeiten von Kollegen, die dann bald auch wieder Juroren sind. Es entstehen geschlossene Zirkel der „Gerechten“, die Runde für Runde Arbeiten aussortieren, die Interpretationen von Ideen anderer darstellen und unvergleichbar sind. Die Arbeit mit den geringsten Schwächen „siegt“. Nur ganz selten wird ein großer Entwurf gekürt. Oft wird das Entstehen von Baukunst bereits durch die Ausschreibung verhindert. Dann angeln Juroren in Teichen ohne Fische. Das Wettbewerbswesen muss von Grund auf erneuert werden.

Den Bauherrn in Person, der weiß, was er will und dafür einsteht, gibt es kaum noch. Er wurde durch einen im Namen anderer handelnden Vertreter ersetzt. Die „Als-ob-Bauherren“ nutzen zwar ihre Kompetenzen, aber tragen selten wirklich Verantwortung. Sie spielen Bauherr. Oft werden sie während einer Planung ausgewechselt. Noch ist das Bauherrenamt ein Privileg für Vorstände, Bankiers, Investoren oder Politiker. Als Bauherrn der Zukunft stelle ich mir im kommenden Bereich einen parlamentarisch beauftragten, wirklich kompetenten Bevollmächtigten vor.

Größten Einfluss auf die Architektur der kommenden Jahre werden Schlagworte haben. Nach dem zweiten Weltkrieg wurden die „menschlichen“ Bauten propagiert. Als aber jeder Architekt seine Bauten als menschlich bezeichnete, verlor der Begriff seine läuternde Wirkung. Es wurde nicht menschlicher gebaut als vorher. Der Ruf nach Menschlichkeit wurde in den siebziger Jahren abgelöst durch den Ruf nach einer neue Ästhetik, obwohl man sich bewusst war, dass auch schöne Bauten böse Auswirkungen haben können. Einen gültigen Maßstab für Schönheit in der Architektur wird es nicht geben. Maßstäbe werden zwar von Zeit zu Zeit neu erfunden und manchmal über längere Zeiten in Gesellschaften tradiert. Jede Stilepoche des Bauens hatte eine eigene Lehre vom Schönen, die Ästhetik. Zur Zeit versuchen einige selbsternannte Apostel unter den Architekten, ihren Kollegen den eigenen Maßstab aufzudrücken und werden es weiterhin versuchen.

Aber es gibt durchaus ernst zu nehmende Erkenntnisse mit Langzeitgültigkeit, die die Diskussion über das Ästhetische der kommenden Jahre beeinflussen wird. Das moderne Haus in unwirtlichen Erdzonen stimulierte das Nachdenken darüber, ob es nicht doch ein Urempfinden für Ästhetisches geben könne. Wir richten unsere Häuser mit angenehmem Klima und möglichst mit Pflanzen ein. Wir lieben Blumen und Bäume und versuchen unablässig, unser Wahrnehmungsvermögen des Ästhetischen zu steigern. Gerade das moderne Haus kann als Rest einer vermutlich ererbten Erinnerung an die Urheimat des Menschen angesehen werden, an die Sehnsucht nach dem Paradies.

Vorbilder beeinflussen die Kunst. Für viele junge Architekten sind ihre Lehrer die Vorbilder. Ihre Lehrer bleiben haften und prägen das Berufsleben selbst dann noch, wenn die Lehren überholt sind. Die wirksamste Vorbildfunktion hat der ausgeführte Bau. Er zeigt den echten Standort seines Erbauers. Auch das wird so bleiben. Der krasseste Fall einer Fehllehre ist die derzeitige an den meisten Schulen noch betriebene Lehre der Planung von Siedlungen. Immer noch meint man, dass Städte als Ganzes perfekt planbar seien, einschließlich ihrer Wege- und Straßensysteme und der Beziehung aller Gebäude zueinander und der durch sie bewirkten Beziehung ihrer Bewohner zur belebten und unbelebten Natur. Die Idee der aufzeigbaren, von Menschenhand total geplanten „Stadt von morgen“ ist zwar noch aktuell, doch kein Wegweiser. Für unendlich Variierbares gibt es kein eindeutiges Optimum, das die Grundlage für Pläne abgeben könnte. Die Infrastrukturen und Wegesysteme der Siedlungen wandeln sich ständig, doch langsamer als die Elemente der Städte, die Häuser, die unterschiedlich in Gestalt, Typ, Größe, Form, Farbe, Material und Alter Individuen sein können  und Heimat für unterschiedliche Menschen. Das richtige Haus muss am richtigen Ort stehen. Das wird für die Zukunft immer wichtiger. Es gibt Entwicklungsprozesse, die in die Zukunft weisen. Siedlungen, Dörfer und Städte verändern sich ständig, entstehen, wachsen, vergehen. Sie sind Teil der biologischen Natur des Menschen. Nur kleine Elemente der Stadt sind einem umfassenden Planungszugriff zugängig. Alles andere ist ein biologischer und zugleich physikalischer Vorgang der umkehrlosen Veränderung, und zwar mit einer Eigendynamik und Selbstgestaltungskraft, die ein Planer kennen muss, wenn er diese Prozesse fördern will.

Das jüngste Schlagwort heißt „nachhaltig“. Es ist ebenso idealistisch wie das Wort „menschlich“ und wird das nächste Jahrzehnt beherrschen, bis erkannt wird, dass es wegen seiner Vieldeutigkeit beliebig ausgelegt werden kann und damit an Aussagekraft verliert. Wenn man diesen aus der Forstwirtschaft stammenden Begriff auf das Bauen anwendet und beispielsweise nur so viele Gebäude baut wie man vorher weggenommen hat, so ist das für Europa im Grunde zwar richtig, kann aber verallgemeinert großen Schaden anrichten.

Auch der Begriff einer „demokratischen“ Architektur ist heute „in“, doch bisher kaum konkret zu fassen. Es scheint sich aber zu lohnen, sich um die Baukunst in einer Demokratie sehr intensiv zu bemühen. Die demokratische Architektur dürfte bei Bauten zu suchen sein, die in weitreichendem nachbarlichem Eigenverständnis und unter Mitsprache aller Beteiligten entstehen. Es fällt mir schwer, die zur Zeit entstehenden, von demokratisch gewählten Politikern durchgepaukten Paläste als demokratische Architektur zu bezeichnen. Sie sind, wie es sie zu allen Zeiten gab, Monumente des Personenkultes. Statt Mitsprache und Nutzung von Freiheit innerhalb einer einsichtigen, friedfertigen Gesellschaft zu fördern, ist vorerst leider zu erwarten, dass sie als getarnte Kunstdiktatoren alles, was außerhalb ihrer Prinzipien liegt, als „Beliebigkeit“ und Feind guter Architektur mit immer neuen Gestaltungsvorschriften bekämpfen, um einem befürchteten gestalterischen Chaos vorzubeugen. Sie bestimmen Gebäudeproportionen, Geschosshöhen, Dachneigungen, Materialien und Farben und versuchen so, Stadtbilder zu erzwingen, deren geistige Leere allerdings erst voll erkennbar wird, wenn die Urheber selbst bereits abgetreten sind.

Wir Deutsche sind über hundert Jahre lang zur Unfreiheit im Bereich des Bauens erzogen worden. Wir akzeptieren Uniformierung und finden dennoch unsere Altstädte, in der jedes Haus sich vom anderen unterscheidet, schön. Wir bestaunen einerseits auch die modernsten Großstädte der Welt, die extreme Vielfalt zeigen, und akzeptieren andererseits widerstandslos geregelte Dachneigung, vorgegebene Putz- und Ziegelfarben und „Baufenster“ die Orientierungen des Hauses und die Form der Grünflächen festlegen und zusammengenommen weder eine effektive Ausnutzung noch optimales Energiesparen ermöglichen. Die „Vorschreiber“ werden noch einige Zeit ihren Einfluss geltend machen.

Der Schlachtruf der Politik und Wirtschaft heißt heute Globalisierung. Alle Disziplinen von Wissenschaft und Technik werden angehalten, global zu denken. Auch die Ausbildung der Architekten und die Bauforschung sollen international, ja müssen global sein. Daran, dass der Bezug zum Ort mindestens ebenso wichtig ist, wird selten gedacht. Immobile Bauten sind im Grunde immer dem Ort verpflichtet. Es gilt, global zu denken, doch lokal zu bauen. Wenn Europa zusammenwächst, wird es keine neue gemeinsame europäische Architektur geben. Selbst politisch geprägte nationale Architekturen werden sich nicht weiterentfalten, sondern es  werden sich zunehmend Architekturen der Regionen bilden, die man aber nicht mehr mit dem bisher verwendeten Begriff „provinziell“ belegen kann. Der Oberrhein zwischen Basel und Karlsruhe, ob badisch, schweizerisch oder elsässisch, ist eine solche Region. Jede Region auf dieser Erde ist einzigartig, ist unverwechselbar. Eine umfassende Globalisierung stört den Prozess einer zukünftig sinnvollen Differenzierung. Voraussetzung für die Entwicklung einer Region ist das Erkennen und Unterstützen ihrer Besonderheiten. Die „Global Architecture“ der Flughäfen und Hiltons ist bereits von gestern. Sie wird zunehmend durch wieder erkennbare Gebäude abgelöst, die den Standort speziell kennzeichnen. Gerade der Weltreisende möchte erkennen, wo er sich befindet.

Bedeutend mehr als ein Schlagwort ist aber der Begriff „ökologisches Bauen“, den es bereits seit vier Jahrzehnten gibt und auch weiterhin in zunehmender Differenzierung geben wird. Ursprünglich war die Ökologie die Lehre vom Verhalten der biologischen Arten zu- und untereinander. Man nahm an, dass die Natur ein großer, sich immer wieder ausgleichender Haushalt sei. Nach neuerer Sicht gibt es diesen Ausgleich nicht. Was zerstört ist, bleibt zerstört. Es kann aber Neues entstehen. Der große „weise“ Haushalt der Natur war ein Wunschgedanke. Dennoch spielt das Verhalten von Pflanzen, Tieren und Menschen untereinander eine entscheidende Rolle für die Beziehung zwischen Mensch, Natur und Umwelt, also auch für Planungsvorgänge im Bereich Haus und Stadt. Das ökologische Bauen hat in dieser biologisch geprägten Definition eine weit reichende Zukunft. Es erscheint undenkbar, dass man Menschen auf der Erde unterbringen kann, ohne zugleich den Einklang mit der natürlichen Umwelt anzustreben.

Der Begriff Ökologie wird aber inzwischen in zunehmendem Maße als Bezeichnung für Energiesparen verwendet, genaugenommen für das Einschränken des Verbrauchs fossiler Brennstoffe. Selbstverständlich sollte Energie auch weiterhin gespart werden und das Nutzen erneuerbarer Energien ökonomisch und auch ökologisch sinnvoll sein. Die Entwicklung der Solarenergienutzung gehört zu den wichtigsten Aufgaben der Menschheit. Bisher gibt es nur ganz wenige Energiespar-Bauten, die man zur Baukunst zählen kann. Eine wirklich ökologische Baukunst, die energie- und zugleich materialsparend ist und das Einswerden des Menschen mit der Natur als Ganzes fördert, kann als eine der großen Zukunftsaufgaben angesehen werden. Ökologisch bauen heißt auch menschenwürdig und kindergerecht bauen. Der Begriff des natürlichen Bauens ist inzwischen Leitmotiv geworden, aber nicht im Sinne des Imitierens, sondern im Versuch, die Natur als Ganzes und auch die Natur des Menschen zu verstehen.

Viele Menschen, und nicht nur Familien, wünschen sich das Haus mit Garten als Erweiterung der Wohnung. Die meisten Architekten und Städtebauer aber gehen ohne intensive Nachforschungen von vornherein davon aus, dass man sich heute das Einfamilienhaus nicht einmal für Familien mit Kindern leisten könne.

In Europa fehlt nicht das Land, um es allen, die es wünschen oder nötig haben, zu ermöglichen. Man braucht nur eine andere Art von Häusern und eine bessere Wohn-Garten-Kultur.

Die viel verbreitete Ansicht von Planern, dass man alle Menschen in „Regalen“, Türmen und Blocks gedrängt unterbringen müsse, um außerhalb der städtischen Region eine sogenannte „freie Natur“ zu erhalten, ist als lehrbares Prinzip nicht mehr haltbar. Untersuchungen von Biologen und Ökologen haben ergeben, dass die größte Artendichte von Tieren und Pflanzen in Wohngärten und Parks zu finden ist, die geringste aber in den Monokulturen der Land- und Forstwirtschaft. Obwohl von vielen Planern verpönt und meist auch zu klein bemessen, sind gerade Wohngärten ebenso wie innerstädtische Parks letzte Rückzugsgebiete für viele Tierarten wie Schmetterlingen, Vögel und Waldgetier.

Der bewohnte Garten ist inzwischen zur modernen Arche Noah geworden. Es ist unverständlich, dass Monokulturen der Feldwirtschaft mit viel Geld für Dünger und Vertilgungsmittel auch dann erhalten werden, wenn sie agrarökonomisch sinnlos geworden sind. Sie vermindern die Artendichte und Individuenanzahl selbst in benachbarten Naturschutzgebieten. In falsch interpretiertem Verständnis von Ökologie und Landschaftsschutz werden Menschen in enge Gehäuse verwiesen, obwohl sie doch gerade dafür prädestiniert sind, blühende Landschaften entstehen zu lassen und zu pflegen. Nur etwa ein Drittel der Nordeuropäer lebt in und mit dem Garten und ein weiteres Drittel sehnt sich danach. Der Rest bevorzugt total künstliche Bauformen.

Das Ein-Personen-Haus oder das Einfamilien-Haus mit bewohntem und gepflegtem Garten kann ebenso energiesparend sein wie der Wohnblock. Es erlaubt sogar mehr Energieersparnis, wenn Orientierung und Gestalt des Bauwerks ganz dem Ort angepasst werden. Es gibt viele sogenannte Industriebrachen und land- und forstwirtschaftliche Flächen, die aufgelassen wurden und nun beste Wohnlagen für Menschen darstellen. Man kann durchaus allen Menschen und besonders ihren Kindern, die sich nach einem Garten sehnen, ihre Wünsche erfüllen, ohne unser Landschaft zu verbauen oder zu „zersiedeln“. Man benötigt dazu keine landschaftlich qualitätsvolle Erdoberfläche. Der Ausverkauf der Gemeinden durch Reprivatisierung von Gemeindeeigentum ist nach meiner Meinung nicht der richtige Weg. Besonders für junge Familien und Kinder ist garantierter Besitz auf Gemeingrund vorzuziehen. Unser Land hat Reserven, die bisher ökologisch völlig falsch genutzt und vor allem den Kindern vorenthalten werden, weil weniger als 1% der anteiligen Erdoberfläche mit Wohngebäuden belegt ist.

Selbstverständlich bin ich für vollständige Gestaltungsfreiheit, wenn den Nachbarn die Sonne und ein Blick in die Landschaft erhalten bleibt. Der Gartenbesitzer muss pflanzen dürfen, was er für richtig und schön hält. Dann kann sich aus der Vielfalt heraus ein intensives Verständnis für Haus und Umwelt und eine neue ökologische Gartenkultur entwickeln, in der ungenutzte Häuser auch einmal sanft weggenommen werden.

Meine bisherigen Äußerungen bezogen sich auf die nächsten Veränderungen als Kurzzeitvorhersage des zu Erwartenden. Langfristige Vorhersagen sind, wie anfangs gesagt, nicht möglich, aber es gibt Visionen. Die Summe aller Visionen kann Hinweise geben. Voraussetzung dafür ist eine friedliche Entwicklung. Meine Vision von der Zukunft der Architektur ist die meiner Wünsche. Ich kann über die Zukunft und ihre Baukunst schreiben und skizzieren, so weit meine Fantasie, die mir grenzenlos erscheint, reicht. Da gibt es wunderbare Landschaften, in denen freundliche Menschen in Häusern leben, die eins mit der Natur sind.

Ich mache meine Vision am Jahr 2050 fest. Als Mensch des 20. Jahrhunderts arbeite ich seit über 50 Jahren aktiv als Architekt, Erfinder und Lehrer, habe im eigenen Land und in der Fremde gebaut und Erfolg gehabt, der anfängliche Wünsche weit übertraf. Ich kann mir gut vorstellen, wie ich vorgehen würde, wenn ich jetzt noch einmal anfangen dürfte. Als Autodidakt habe ich damals begonnen, habe Friedhöfe gebaut und Windgeneratoren erdacht, das Bauen mit minimalem Materialaufwand studiert und verwirklicht und versucht, Solarenergienutzung und Baukunst zusammenzubringen und das Wissen um die Gestalten der unbelebten, der lebenden und der toten Natur zu mehren.

Die Vision meiner eigenen Wunschwelt für 2050 ist kein statisches Gebilde, sondern hat eine in ständiger Veränderung befindliche Gestalt. Gebäude werden an- und eingepasst, vergehen und entstehen neu. Die umgebende Natur wird von den in ihr lebenden Menschen erhalten und gepflegt. Jeder Mensch wohnt in dem ihm angemessenen Haus, das von Architekten, die ihren Beruf, für Menschen zu bauen, ernst nehmen, liebevoll betreut und dem jeweiligen Ort angepasst wurde. Ohne Uniformierung gibt es alle Varianten zwischen dem großen Haus für viele Menschen und dem kleinen Ein-Menschen-Haus mit allen nur möglichen Formen und Konstruktionen. Die vielfältig gewordenen Bautechniken, Konstruktionsmöglichkeiten und Materialien erlauben endlich, dass sich eine Stadt oder eine ganze besiedelte Landschaft täglich reibungslos wandeln kann, damit sie nicht erst in ferner Zukunft gut und schön ist, sondern von Beginn an und bleibend, auch im Jahr 2060 und 2070.

Die besiedelte Landschaft meiner Vision wird durchweg grün sein, bis auf einige der heute schon bestehenden Verdichtungen, dann aber ohne Bausünden meiner Generation. Hauptenergieträger ist die Elektrizität, gestützt durch Selbstgewinnung. Die den Siedlungsbau bestimmenden Abwassersysteme sind in ländlichen Gebieten dezentralisiert. Der gesamte Wasserhaushalt ist weitgehend ausgeglichen. Die Mehrzahl aller Arbeitsplätze ist „soft“ und befindet sich in den Wohnbereichen. Gegenüber dem heutigen Zustand hat sich die durch Bauten sterilisierte Fläche trotz des größeren Anteils von „Wohnen in und mit dem Garten“ nicht mehr vergrößert. Die Verkehrswege sind bei geringerem Landverbrauch effektiver und schöner. Die derzeitige Arbeitshektik ist zurückgegangen zugunsten eines verstärkten Kulturlebens, in dem Menschen Erfüllung und Arbeit finden. Alle Künste streben einer kulturellen Hoch-Zeit entgegen.

Oft schon wurde ich aufgefordert, Prognosen zu geben. „Wie werden wir weiter leben“ war schon immer die bange Frage und ist es auch heute am Ende des 20. Jahrhunderts. Meine Wünsche von früher haben sich erfüllt. Wir haben inzwischen das anpassungsfähige Haus, das Haus im Haus, die grünen und wandelbaren Dächer, die immer effektiver werdende Solarenergienutzung und effektive und sogar ästhetische Windräder.

Im biowissenschaftlichen Bereich wurde meine Vermutung bestätigt, dass alle lebenden Wesen nur mit einer einzigen Konstruktion gebaut sind. Sie ist zugleich die allerleichteste Baukonstruktion.

Noch nicht erfüllt in den letzten Jahrzehnten haben sich meine Wünsche für eine stärkere Sensibilität im Bauen. Durch eine verstärkte Beziehung zur Natur, zu den Ursprüngen der Lebensentstehung des Menschwerdens wurde zwar die Basis für eine neue Zeit des sinnlichen Erfassens des Ästhetischen gelegt. Doch es kamen lieblose, Macht spiegelnde Planungen, eben die Architektur von 1999, an der sich wohl bis 2010 nichts ändern wird.

Meine Hoffnung auf eine Hochkultur des Ästhetisch-Sinnlichen in der Architektur für die Mitte des 21. Jahrhunderts aber ist stark, denn alle Künste basieren auf dem Wahrnehmen durch Sinne, mit denen das Erfassen des Wahrgenommenen und das Verarbeiten hin zu neuen Wahrnehmungen eingeleitet wird. Bei Künstlern entsteht aus dem Aufnehmen und Verinnerlichen von Eindrücken der Drang, „Kunde zu geben“. Aus Wahr-nehmen  wird Wahr-geben, wird Philosophie und Kunst, wenn das Gegebene durch Können zum Gekonnten gesteigert wird. Daran wird sich auch wenig ändern. Alle Künste haben eine Beziehung zur Liebe der Menschen zueinander, zu Tieren und Gegenständen, und die Erotik war zu allen Zeiten von großer Bedeutung, auch in der Architektur. Die Architektur ist zur Zeit extrem unerotisch. Dabei ist doch gerade die Architektur die Kunst, die das Paradies, also den Garten der sich liebenden Kreaturen, mit der Wohnung stets neu zu schaffen sucht. Das erste Haus in der Urheimat des Menschen war nach heutiger Sicht das sichere Lager für Mutter und Kind.

Meine Vision von der Baukunst von morgen braucht keine neue Ästhetik, aber ein vervollkommnetes ästhetisches Empfinden. Ich erhoffe und wünsche mir für das Bauen im nächsten Jahrhundert sanfte Zurückhaltung im Bereich des Materiellen, bei gesteigerter Sensibilität, die sich unverzerrt und frei entfaltet.





Architektur der Zukunft